Was ist eine Autismus-Spektrum-Störung?

Autismus gilt als Entwicklungsstörung des zentralen Nervensystems (neurodevelopmental disorder), welche primär genetisch verursacht ist und mit strukturellen und funktionellen Veränderungen des Gehirns einhergeht, welche die Kontaktfähigkeit sowie das Verhalten eines Menschen grundlegend beeinflussen.

Kamp-Becker, I. & Bölte, S. (2021). Autismus. Stuttgart. utb. (German Edition). Kindle-Version. S. 31.

Diagnose Autismus und Autismus-Spektrum-Störung

Autismus nach ICD-10

Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die durch schwerwiegende qualitative Abweichungen vom „typisch-altersnormativen“ Entwicklungsverlauf in jeder Entwicklungsphase gekennzeichnet sind. Diese Abweichungen und Verzögerungen sind eng mit der Reifung des zentralen Nervensystems verbunden und zeigen sich nach ICD-10 (Klassifikation psychischer Störungen der Weltgesundheitsorganisation/WHO von 1994) in drei zentralen Verhaltensbereichen, welche auch die Kernsymptomatik (das Autistische Syndrom) eines Autismus repräsentieren:

(1)​ Qualitative Beeinträchtigungen in der zwischenmenschlichen Interaktion

(2)​ Qualitative Beeinträchtigungen in der Kommunikation

(3)​ Eingeschränktes, stereotypes, sich wiederholendes Repertoire von Interessen und Aktivitäten.

Die Beeinträchtigungen der sozialen Interaktion zeigen sich in der Schwierigkeit, zwischenmenschliche Beziehungen zu initiieren, aufrechtzuerhalten und zu gestalten (z. B. in familiären, freundschaftlich-partnerschaftlichen Kontexten und außerfamilialen Kontexten der sekundären Sozialisation wie Kita, Schule, später Ausbildung/Studium und Beruf). 

Störungen kommunikativer Fähigkeiten umfassen Beeinträchtigungen der Sprachentwicklung sowie des nonverbalen Kommunikationsverhaltens (z. B. beim Ausdruck und Interpretation von Mimik, Gestik und Blickkontakt).

Die eingeschränkten, repetitiven Verhaltensweisen, Interessen oder Aktivitäten äußern sich in Form von speziellen Interessen, ritualisierten Handlungen und Tagesabläufen (Ordnungen und Routinen) oder/und einer starken Aversion gegenüber Veränderungen im Alltag.

Der Begriff „tiefgreifende Entwicklungsstörungen“ bringt zum Ausdruck, dass

(1) die qualitativen Abweichungen vom altersgemäßen Entwicklungsverlauf in allen Lebensbereichen zum Ausdruck kommen können;

(2) diese Auffälligkeiten in ihrem Ausprägungsgrad und Phänomenen im Entwicklungsverlauf zwar variieren, sich jedoch als durchgängiges Muster seit frühester Kindheit zeigen und in ihren zentral-neuronalen Verursachungen ein Leben lang bestehen.

In Anlehnung an:

Tröster, H. & Lange, S. (2019). Eltern von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen. Wiesbaden. Springer Fachmedien. (German Edition). Kindle-Version. S.1-3.

Unterscheidungskriterien der Kategorien des Autismus nach ICD-10

Dilling, H., Mombour, W. & Schmidt, M.H. (2015). Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD 10 Kapitel V (F). Bern. Hogrefe. S. 344 ff.

Frühkindlicher Autismus 

Alle psychopathologischen Bereiche des Autistischen Syndroms müssen erfüllt sein: gegenseitige Interaktion, Kommunikation sowie repetitiv-stereotype Verhaltensweisen. Frühkindlicher Autismus manifestiert sich vor dem 3. Lebensjahr und geht mit Entwicklungsstörungen/-verzögerungen in anderen Funktionsbereichen, vor allen der Sprachentwicklung und der kognitiven Entwicklung, einher. 

Asperger-Syndrom 

Alle psychopathologischen Bereiche des Autistischen Syndroms müssen erfüllt sein: gegenseitige Interaktion, Kommunikation sowie repetitiv-stereotype Verhaltensweisen Es fehlt im Gegensatz zum Frühkindlichen Autismus das Spektrum weiterer Entwicklungsstörung/-verzögerungen (Sprache, Kognition), Auffälligkeiten können vor allem im motorischen Bereich vorliegen. Die Manifestation ist im Alter ab dem 3. Lebensjahr, „mildere Fälle“ (in Abgrenzung zum Frühkindlichen Autismus) sind möglich.  

Atypischer Autismus 

Der Begriff „atypisch“ bezieht sich auf eine Abweichung von der ICD-10-Kategorie „Frühkindlicher Autismus“. Die tiefgreifende Entwicklungsstörung in Form des Atypischen Autismus ist häufig mit schweren Intelligenzminderungen und niedrigem Funktionsniveau verbunden. Das Auftrittsalter ist höher als bei Kindern mit Frühkindlichem Autismus, meist im 2. – 3. Lebensjahr. Es sind nicht alle psychopathologischen Bereiche des Frühkindlichen Autismus erfüllt: gegenseitige Interaktion, Kommunikation sowie repetitiv-stereotype Verhaltensweisen; nur ein oder zwei Verhaltensbereiche „reichen aus“, trotzdem ist das Verhalten „typisch autistisch“.

So stellt der Atypische Autismus eine zu Recht vom Autismus getrennte Störung dar: Intelligenzminderung mit autistischen Zügen.  

(in Anbetracht der „diffusen Begründung“ eine folgenschwere Formulierung mit erheblichen Auswirkungen für sozialrechtliche Bewertungen – zum Beispiel SGB IX, Grad der Behinderung)

In der Praxis wird diese Kategorie Atypischer Autismus häufig auch unfachlich als „Sammelbecken für unklare Fälle“ von Autismus verwendet.

In Bezug auf das Konstrukt der Autismus-Spektrum-Störung nach ICD-11 und DSM-5® ist diese Kategorie im Grunde obsolet, da ein „typischer Autismus“ (Frühkindlicher Autismus) nicht mehr als Maßstab angelegt werden kann. 

Die Kernsymptomatik (das Autistische Syndrom)

Kerndimensionen ASS

Hollander, E. et al. (1998). A Dimensional Approach to the Autism Spectrum. CNS Spectrums. The International Journal of Neuropsychiatric Medicine, 3(3), 22–39.

Autismus-Spektrum-Störung

Mit der Einführung des Asperger-Syndroms in die ICD-10 (1994) wurde die Perspektive auf Autismus erweitert. Bis dahin verstand man unter Autismus (nur) den Frühkindlichen Autismus nach Kanner (ICD-9 299.0 infantiler Autismus).  

In der seit 2015 geltenden DSM-5® (der Klassifikation der American Psychological Association) wurde das Konstrukt der Autismus-Spektrum-Störung eingeführt.

Wittchen, H.-U. & Falkai, P. (2018). Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5(R). Göttingen. Hogrefe. 

Die Autismus-Spektrum-Störung wird damit den Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung zugeordnet und nicht mehr den Entwicklungsstörungen allgemein, wie noch in der ICD-10.

Auch nach der ICD-11, die seit 01.01.2022 gilt (jedoch derzeit noch nicht für die Klassifikation von Krankheiten verbindlich ist, insofern immer noch – Stand Januar 2023 – die ICD-10 wirksam ist), wird die Autismus-Spektrum-Störung – 6A02 Autismus-Spektrum-Störung (ASS), Autism spectrum disorder (ASD) – den mentalen-, verhaltens- oder neuronalen Entwicklungsstörungen zugeordnet und in verschiedene Varianten unterschieden (siehe Kapitel Autismus-Spektrum-Störung und ICD-11).

(„Frozen Version“ Stand Januar 2023) https://icd.who.int/browse11/l-m/en#/http://id.who.int/icd/entity/437815624

In der ICD-11 werden die beiden ersten zwei Bereiche der Kernsymptomatik zusammengefasst. 

Da es verschiedene Varianten der Autismus-Spektrum-Störung gibt, wird auch der Plural Autismus-Spektrum-Störungen verwendet.  

Die Autismus-Spektrum-Störung ist eine früh beginnende, viele somatische, psychologische und Alltagsfunktionen beeinträchtigende, überdauernde Störung, deren Abgrenzung zu vielen anderen Störungsbildern oft schwierig ist.

Kamp-Becker, I. & Bölte, S. (2021). Autismus. Stuttgart. utb. (German Edition). Kindle-Version. S. 11.

In beiden Klassifikationen (DSM-5® und ICD-11) wird auf die Kategorien der ICD-10: Frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom und Atypischer Autismus verzichtet.

Ursachen der Autismus-Spektrum-Störung

Die Autismus-Spektrum-Störung ist eine Entwicklungsstörung. Die grundlegende Unterscheidung in primäre Entwicklungsstörungen und sekundäre Entwicklungsstörungen folgt der Art der Verursachung dieser Entwicklungsstörungen. Während primäre Entwicklungsstörungen angeborener Art (mit und ohne familiale Exposition) sind, haben sekundäre Entwicklungsstörungen ihre Ursachen in anderen Krankheitsbildern, die in der Regel genetisch oder erworben sein können.  

Tebartz v. Elst, L. & Riedel, A. (2023). Nosologie der Entwicklungsstörungen. In: L. Tebartz v. Elst (Hrsg.) Entwicklungsstörungen: Interdisziplinäre Perspektiven aus der Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalters (German Edition). Kohlhammer Verlag. Kindle-Version. S. 368/369.

Das Ursachengefüge der Autismus-Spektrum-Störung ist mehrdimensional, es bestehen komplexe Zusammenhänge.

Modellvorstellung ASS
Abb.: Kamp-Becker, I. & Bölte, S. (2021). Autismus. Stuttgart. utb. (German Edition). Kindle-Version. S. 31/32.

Ätiopathogenese: wissenschaftliches Erklärungsmodell der Ursachen (Ätiologie), sowie Entstehung und Entwicklung (Genese, Sekundäre- und Folgeerscheinungen) von Krankheiten (Pathologie: Lehre von Krankheiten)

Viele Faktoren (insbesondere das „Zusammenspiel“ dieser) sind bisher im Grunde nicht vollständig aufgeklärt, insofern diese Abbildung nur eine Vorstellung vermitteln kann. Die Differenzierung der Ursachen der Autismus-Spektrum-Störung folgt der Nosologie (systemische Beschreibung von Krankheiten) der Entwicklungsstörungen:

Primäre (idiopathischer) Autismus-Spektrum-Störung

Unter den neuropsychiatrischen Erkrankungen hat die Autismus-Spektrum-Störung mit die stärkste Heritabilität (Maß für Erblichkeit). Bei monozygotischen Zwillingen liegt die Konkordanzrate bei 70%. (Konkordanz/Penetranz: prozentuale Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmter Genotyp zur Ausprägung eines dazugehörigen Phänotyps/Erscheinungsbildes führt). Das empirische Wiederholungsrisiko für Geschwister von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störung liegt zwischen 5% und 20%.  

Basierend auf ältere Studien ging man aufgrund einer familiär-transgenerational überzufälligen Häufung ursprünglich davon aus, dass der Phänotyp „Autismus“ monogenetisch vererbt wird, im Grunde als eine Art „Erbkrankheit“. Dies betrifft nach neueren Studien jedoch lediglich ca. 3-5 % der Fälle von Autismus. Man nimmt an, dass eine Vielzahl von Genen (ca. 1000) beteiligt sind, insofern komplexe (und bisher nicht aufgeklärte) genetische „Zusammenspiele“ vermutet werden.

https://www.medizinische-genetik.de/diagnostik/humangenetik/erkrankungen/syndrome/entwicklungs-/-wachstumsstoerungen/autismus. abgerufen 03.07.2023

Für ca. bis zu 30% des autistischen Phänotyps konnte eine genetische Ursache gefunden werden. Zu diesen zählen auch epigenetische Zusammenhänge (Zusammenspiel von Gen-Umwelt-Faktoren). Insofern genetische Veränderungen (zum Beispiel Mutationen) auch im Rahmen „der Verschmelzung“ des Erbmaterials bei der Befruchtung selbst, jedoch auch während der embryonalen Zellentwicklung („de novo“ entstandene Variationen, CNVs: Copy Number Variationen/Genkopiepolymorphismen: 10-20%) vorkommen können. Genetische Faktoren interagieren dabei vermutlich additiv. CVNs kommen bei Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung häufiger vor als bei Menschen ohne Autismus-Spektrum-Störung. CVNs verändern die Menge an Gen/Protein und haben direkte Konsequenzen für die Entwicklung von Neuronen.  

„Genetische Faktoren/Umweltfaktoren“ (o.g. Abb.) ist nicht im psychosozialen Zusammenhang zu verstehen, sondern wie sich Umweltfaktoren „epigenetisch“ vermittelt auswirken können, insofern zum Beispiel die strukturelle Anpassung chromosomaler Regionen gemeint ist, um veränderte Zustände der Aktivierung zu kodieren, zu signalisieren oder zu konservieren.

Bird, A.P. „The structural adaption of chromosomal regions so as to register, signal or perpetuate alterd activity states. In: Perceptions of epigenetics. Nature. Bd.447. N. 7134, May 2007, 396-398.

Psychosoziale Faktoren haben keinen ursächlichen (ätiologischen), lediglich einen modulierenden Einfluss im individuellen Entwicklungsverlauf (Genese) einer Autismus-Spektrum-Störung. Diese Modulationseinflüsse sind jedoch von „der Schwere“ der Autismus-Spektrum-Störung abhängig.

Der Begriff „idiopathisch“ (ohne fassbare Ursachen) unterstellt den primären Formen der Autismus-Spektrum-Störung in diesem Zusammenhang im Grunde eine genetische Ursache, die aufgeklärt sein kann oder nicht.

Im klassischen Verständnis von Autismus sind der Frühkindliche Autismus und das Asperger-Syndrom idiopathische Formen der Autismus-Spektrum-Störung.

Sekundäre (symptomatische) Autismus-Spektrum-Störung

Neben dem Begriff primärer Autismus wird auch der des sekundären Autismus verwendet. Beim sekundären oder auch symptomatischen Autismus ist das autistische Syndrom Folge einer anderen identifizierbaren Erkrankung.

Tebartz van Elst, L. (2023). Autismus, ADHS und Tics: Zwischen Normvariante, Persönlichkeitsstörung und neuropsychiatrischer Krankheit (German Edition). Kohlhammer Verlag. Kindle-Version. S. 197.

Es sind spezifische ätiologische Faktoren identifizierbar:

  • genetisch-syndromal (zum Beispiel Fragiles X-Syndrom, Klinefelder-Syndrom, Rett-Syndrom)
  • erworben (zum Beispiel bei Epilepsie, Hirnerkrankungen, Folge von Entwicklungsereignissen, die sich auf die Gehirnentwicklung auswirken, zum Beispiel Schwangerschafts- und Geburtsbelastungen u.ä.)

Tebartz v. Elst, L. & Riedel, A. (2023). Nosologie der Entwicklungsstörungen. In: L. Tebartz v. Elst (Hrsg.) Entwicklungsstörungen: Interdisziplinäre Perspektiven aus der Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalters (German Edition). Kohlhammer Verlag. Kindle-Version. S. 368/369

Bei den sogenannten kryptogenen Formen des Autismus (als Sonderfall des sekundären Autismus) wird von der „klinischen Gesamtkonstellation“ genetischer oder/und erworbener Ursachen ausgegangen, ohne dass diese sicher bewiesen werden können (Prinzip: „Ockham’s razor“). Es wird davon ausgegangen, dass etwa 10 % der diagnostizierten autistischen Syndrome dieser Kategorie des sekundären Autismus zuzuordnen sind.

Tebartz van Elst, L. (2023). Autismus, ADHS und Tics: Zwischen Normvariante, Persönlichkeitsstörung und neuropsychiatrischer Krankheit (German Edition). Kohlhammer Verlag. Kindle-Version. S. 198.

Das Rett-Syndrom wird, abweichend von der ICD-10 (hier unter F 84.2), nach neuerer Lesart den erworbenen Formen zugeordnet. 

Autismus-Spektrum-Störung und Intelligenzniveau

Ein spezieller genetischer Zusammenhang besteht zwischen Autismus-Spektrum-Störung und Intelligenzminderung (ca. 50-70%), im Zusammenhang mit Sprachstörungen (30%). Dabei können dieselben Gene, die einen isolierten Autismus verursachen, auch isoliert eine Störung der Intelligenzentwicklung bedingen:

  • Syndromale Formen der Autismus-Spektrum-Störung können mit ausgeprägterer Intelligenzminderung einhergehen.
  • Eine Störung der Intelligenzentwicklung kann für sich genommen auch so schwer ausgeprägt sein, dass in der diagnostischen Praxis relative Defizite in der sozialen Kommunikation und anderen Bereichen des Autistisches Syndrom von Verhaltenssymptomen einer Intelligenzminderung nur schwer oder nicht differenziert werden können.

Professionelle stehen vor der schwierigen Aufgabe, festzustellen, wann beobachtete soziale Defizite der Störung der Intelligenzentwicklung der betroffenen Person zuzuschreiben sind und wann die zusätzliche Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung zu stellen ist. Die richtige Einschätzung der intellektuellen Fähigkeiten ist notwendig, um andere Fähigkeiten, deren Ausprägung bei der ASD-Diagnostik zu beurteilen sind, in richtige Beziehung zu setzen.

Tebartz v. Elst, L. & Riedel, A. (2023). Nosologie der Entwicklungsstörungen. In: L. Tebartz v. Elst (Hrsg.) Entwicklungsstörungen: Interdisziplinäre Perspektiven aus der Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalters (German Edition). Kohlhammer Verlag. Kindle-Version. S. 324/325.

Häufigkeit der Autismus-Spektrum-Störung

In der weltweiten Prävalenz geht man gegenwärtig von einer mittleren Prävalenz von 0.62% bis 0.70% aus. 

Kamp-Becker, I. & Bölte, S. (2021). Autismus. Stuttgart. utb. (German Edition). Kindle-Version. S. 25.

Prävalenz bedeutet „Krankheitshäufigkeit“ und ist ein Maßstab für die Epidemiologie, die Wissenschaft der Verbreitung von Krankheiten in einer definierten Gruppe einer Bevölkerung.

„Die letzten Zahlen des amerikanischen Center for Disease Control (CDC) von 2018 belaufen sich auf 1 bei 44 Kindern, was einer Prävalenz von 2.3 % entsprechen würde.“

Tebartz v. Elst, L. et al. (Hrsg.) (2022). Autismus, ADHS und Tics: Zwischen Normvariante, Persönlichkeitsstörung und neuropsychiatrischer Krankheit. Stuttgart. Kohlhammer. S. 123. 

Geschlechterverhältnis

Das Geschlechterverhältnis scheint gleichzubleiben. Metaanalysen zeigen ein Verhältnis von
4:1 zugunsten des männlichen Geschlechts.

Mädchen weisen häufiger begleitende Intelligenzminderungen und Epilepsie auf. Bei Betroffenen mit Intelligenzminderung liegt das Verhältnis männlich 2: weiblich1.

Kamp-Becker, I. & Bölte, S. (2021). Autismus. Stuttgart. utb. (German Edition). Kindle-Version. S. 26.

Frühkindlicher Autismus 3-4 männlich : 1 weiblich

Asperger-Syndrom 8 männlich :1 weiblich

Dilling, H., Mombour, W. & Schmidt, M.H. (2015). Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD 10 Kapitel V (F). Bern. Hogrefe. S. 344 und 351.  

Zum vermeintlichen Anstieg der Häufigkeit der Autismus-Spektrum-Störung und mögliche Gründe:

  1. Die Zahl der diagnostizierten Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung ist in den letzten Jahren gestiegen, was mit der gestiegenen Beachtung dieser Störung in der medialen Verbreitung verbunden sein mag.

2. Maßgeblich für die Steigerung der Autismus-Spektrum-Störung sind aber folgende Faktoren:

  • die Entwicklung technischer (bildgebender) Methoden, insbesondere in der vergleichenden Untersuchung der Gehirne von Menschen mit und ohne Autismus-Spektrum-Störung;
  • die Entwicklung diagnostischer Inventare, welche die Präzision in der Feststellung der Autismus-Spektrum-Störung erhöhen;
  • ein gesteigertes fachliches Bewusstsein bei den Experten erhöht die Früherkennung der Autismus-Spektrum-Störung,
  • die Diagnostizierung der Autismus-Spektrum-Störung im Erwachsenenalter,
  • die Diagnostizierung der Autismus-Spektrum-Störung auch bei Mädchen und Frauen.  

3. Der Anstieg basiert aber auch auf der Ausweitung der diagnostischen Kriterien (der Heterogenität):

Im Gegensatz zum kategorialen Autismus nach ICD-10 (1994), bei dem Autismus auf einem wissenschaftlichen Stand der 1970er- bis 1980er-Jahre in

F84.0 Frühkindlicher Autismus,

F84.5 Asperger-Syndrom,

F84.1 Atypischer Autismus.

Dilling, H. et al. (2015). (Hrsg.). Internationale Klassifikation psychischer Störungen. Bern. Hogrefe. S. 343 ff.

Klassifiziert wird, wird bei der Autismus-Spektrum-Störung (nach DSM-5®, 2015; ICD-11, Stand 2022) von einem Kontinuum verschiedenster autistischer Variationen (einer Heterogenität des Krankheitsbildes) ausgegangen.

Der Nachteil des Paradigmas der Autismus-Spektrum-Störung ist es, dass die „fließenden Grenzen“ (die Heterogenität) das Zuordnen einer Autismus-Spektrum-Störung erschweren.